Rishøi WinternovellenIngvild H. Rishøi

 

Winternovellen

Aus dem Norwegischen von
Daniela Syczek

Hardcover. 192 Seiten. Leineneinband, farbiges Vorsatzpapier, Prägung, Lesebändchen
19,50 Euro (D), 20,00 Euro (A)
ISBN: 978-3-944122-15-1

 

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Ingvild Hedemann Rishøi, geboren 1978 in Oslo. Die norwegische Autorin wurde mit Erzählungen und Kinderbüchern bekannt.

Ihre Winternovellen (norw. Vinternoveller) gewannen in Norwegen 2015 den Buchblogger-Preis, 2014 den Kritikerpreis für das beste norwegische Buch des Jahres und dazu den Brage-Preis für den besten Erzählungen-Band.

Die bei uns erschienene deutsche Ausgabe wurde von der Jury in die HOTLIST 2016 aufgenommen (die besten 10 Bücher von 158 unabhängigen Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz).


»Siehst du diese Tätowierung, das ist der Name deines Vaters, wenn ich es mir leisten könnte, wäre das jetzt ein Vogel, ich habe diesen Vogel gezeichnet, auf Butterbrotpapier, als ich eines Abends am Küchentisch saß. Der Vogel war schön, er breitete gerade die Schwingen aus, und ich hatte das Gefühl, als würde er jeden Moment abheben.«

Drei Novellen über das, was uns trägt, wenn die Träume von großer Liebe und Familie verflogen sind: die Unschuld der Kinder und die Wärme menschlichen Mitgefühls.

Ingvild H. Rishøi beleuchtet die Gefühle von Menschen, die trotz Armut, Unsicherheit und Einsamkeit ein wenig Hoffnung finden. Scheinbar einfache, märchenhafte Elemente, moderne Schreibtechniken wie Bewusstseinsstrom und filmische Schnitte, kombiniert mit präzisen Dialogen ergeben einen ganz eigenen, faszinierenden Erzählton.

1 – WIR KÖNNEN NICHT ALLEN HELFEN
Die kleine Tochter bittet ihre Mutter, einem Bettler zu helfen. Aber die weiß nicht einmal, wie sie den Bus nach Hause oder Wäsche für ihr Kind bezahlen soll. Ein Strudel von Wahrheiten und Ängsten, während die Verantwortung für die eigene Tochter erdrückend zu werden scheint.

2 – DER RICHTIGE THOMAS
Thomas wird aus dem Gefängnis entlassen, am Abend soll sein Sohn zu Besuch kommen. Aber Thomas scheitert bereits daran, ein Kissen für ihn zu kaufen. Die Konfrontation mit den Erwartungen an sich selbst und den Vorurteilen der Außenwelt wird ihm fast zum Verhängnis. Und doch gibt es immer die Möglichkeit, sein Leben zu ändern …

3 – GESCHWISTER
Drei Geschwister, siebzehn, sieben und vier, auf der Flucht, geraten in einer Schneelandschaft in eine immer aussichtslosere Situation. Geht es um eine Mädchenfreundschaft, die den Verlust der heilen Familie kompensiert und gleichzeitig motivierend und zerstörend wirkt? Um eine große Schwester, die nach dem Tod des Vaters die Familie zusammenhält? Oder ist vielmehr sie die Bedrohung für die Familie? Verschwimmende Grenzen in einer alles andere als (gefühls)kalten Winterwelt.

Themen wie Existenzangst, Verantwortung und menschliche Ausnahmezustände werden in den drei Novellen so gekonnt miteinander verbunden, dass sie die Verletzlichkeit der Gegenwartsgesellschaft eindrücklich wie wenige Erzählungen erfassen.


STIMMEN:

Ingvild Rishøi schreibt von Lebensläufen, in denen es ganz anders gekommen ist, als man wollte; von der stillen Verzweiflung der sozial Schwachen und oftmals schon fast Abgehängten, aber auch von Wärme, Zuneigung und Fürsorge. Von der helfenden Hand, die sich ausstreckt, vielleicht gerade dann, wenn man sie am wenigsten erwartet. Sie schreibt von Menschen, die zupacken, weil sie wissen, dass genau dies ihre letzte Chance sein könnte.
Rishøis Sprache ist dabei von einer kristallinen Zartheit und Reife … Die daraus entstehenden Novellen – drei an der Zahl – sind von seltsamer Schönheit; … perfekt gebannte Schnappschüsse menschlicher Existenzen in ihren zerbrechlichsten, schönsten Momenten.
– Rowena Körber, BUCHKULTUR

Rishøi erzählt aus der Perspektive ihrer Figuren, in einfachsten Worten und großer Präzision. … Vor allem aber gönnt sie ihren Figuren Beistand: Wenn die dralle Kneipenbekanntschaft dem Vater das dritte Bier wegnimmt, rettet sie ihn – zumindest ein bisschen, denn sein Problem ist natürlich größer. Gegen alle Wahrscheinlichkeit gibt es Hoffnung – ein bisschen märchenhaft, aber nie banal.
– Sabine Rohlf, Berliner Zeitung

… im Laufe der Zeit passiert etwas mit den Menschen. Nicht nur mit ihnen, und das ist das Großartige: Um sie herum tauchen helfende Hände auf, die sie aus der Finsternis herausziehen und uns die verlorengegangene Hoffnung zurückbringen. Das sind ganz erstaunliche, wundervolle Momente, die ich in aller Stille genieße. Das ist wunderbare Literatur, vor der ich mich verneige und der ich noch weitere Leser wünsche.
– Simone Finkenwirth, Klappentexterin, Hotlistblog, we read indie

Wenn man … bei Open House in Verzückung geraten darf über »Winternovellen« (mein liebster Indiebook-Tipp zur Zeit!)
– pinkfish.net

… mit einfachen (und doch so komplexen) Kniffen schafft es Rishøi, Wesentliches über Solidarität, Fürsorge, Verantwortung und Gemeinschaft zu sagen. Die stilsichere und nüchterne Ausführung des Inhaltes fordert das Mitgefühl des Lesers heraus und macht Winternovellen zu großer Kunst.
– Sigmund Jensen, Stavanger Aftenblad

Drei Novellen, die genug Wärme spenden, um den ganzen Winter zu überstehen. Lesen!
– Gerd Elin Stava Sandve, Dagsavisen

Wenn es etwas gibt, das dieses Erzählen besonders charakterisiert, dann ist es die Solidarität und Empathie Rishøis ihren Figuren gegenüber. … Aber es ist nicht einfach, ein Mensch zu sein. Das zeigen diese Bücher mit einer ganz eigenen Wärme und literarischen Einfühlsamkeit.
Anne Merete K. Prinos, Aftenposten

Rishøis Texte graben das Gewöhnliche aus, heben das Schöne und Gewöhnliche hervor und zeigen uns, dass man nicht großartige Hintergründe braucht, um Grundlegendes zu erzählen. Das Ergebnis ist nichts anderes als ungewöhnlich aussagekräftige Literatur.
– Anders Sondrup, Universitas

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INTERVIEW mit Ingvild H. Rishøi: »Ich möchte die Bilder im Kopf der Leser steuern«.
Die Autorin spricht mit uns über ihre Liebe zu Kindern, zum Winter, über Schreibtechniken und Worst-Case-Szenarien – und ihr Sorgenkind, den Klimawandel.


LESEPROBE:

WIR KÖNNEN NICHT ALLEN HELFEN

ALS WIR NACH LINDERUD KOMMEN, macht Alexa sich in die Hose. Wir wollten ja den ganzen Weg bis nach Hause gehen, und sie war einverstanden, es habe doch keinen Sinn, wegen fünf Stationen Geld für den Bus auszugeben. Aber jetzt sind wir gerade erst am Einkaufszentrum vorbei, wir haben noch mehr als die Hälfte vor uns.

Ich hatte ja gefragt, ob es in Ordnung sei, zu Fuß zu gehen. Und sie kletterte am Tor zum Kindergarten hoch und sagte: »Na klar, Mama.«
Jetzt sagt sie nichts mehr, aber sie läuft breitbeinig, und ich weiß, sie friert. Es ist Dezember. Ihr Reflektoranhänger, ein Bär, baumelt an ihrer wattierten Jacke.

Sechzig minus fünfundvierzig ist fünfzehn. Ich habe noch fünfzehn Kronen.
Aber ich kann nicht schwarzfahren, nicht mit ihr, denn sie sieht alles, was ich mache, sie beobachtet mich die ganze Zeit, und wenn ich hinten einsteigen will, baut sie sich am Automaten plötzlich vor mir auf und sagt: »Haben wir einen Fahrschein, Mama?«

Und die Häuserblocks glitzern, Alexa watschelt, die Autos dröhnen, und die Laternenmasten sind mit Edding-Tags übersät, ich weiß noch, wie Alex so meinen Namen geschrieben hat, hinter der Sporthalle. Ich sage nichts dazu, dass sie sich in die Hose gemacht hat, aber ich weiß, dass sie zu Hause sofort ins Bad verschwindet, die Tür zuschließt, und nach ein paar Tagen finde ich dann ihre Unterhose, zusammengeknüllt, ganz unten im Wäschekorb. So ist sie, so läuft das, so ist sie.
Aber ich halte es nicht aus, sie so watscheln zu sehen.
»Wir nehmen den Bus«, sage ich.
Sie blickt auf.
»Ja«, sagt sie. »Das ist vielleicht besser.«

Wir drehen um. Das Einkaufszentrum funkelt. Sie haben es rundher-um mit Lichterketten geschmückt, es sieht aus wie ein Geschenk.
Da nimmt Alexa meine Hand und bleibt stehen.

Ein junger Typ steht vor uns. Er lächelt, er ist vielleicht so alt wie ich, er ist hübsch. Er hält einen Pappbecher in der Hand.
»Könnt ihr mir mit ein bisschen Kleingeld helfen?«, fragt er.
Seine Finger sind geschwollen. Alexa drückt fest meine Hand. Ihr tun immer alle so leid, viel zu sehr, wie bei dem Irrsinn mit den Puppen. Sie ist richtig besessen davon, alle müssen die Decke bis zum Kinn gezogen haben, dann liegen sie da am Fußende ihres Bettes, und jede Nacht setzt sie sich zwanzig Mal auf, um nachzusehen, ob es auch ja allen gleich gut geht. Sie muss anders werden. Sie muss mehr wie ich werden.
»Leider nicht«, sage ich und gehe weiter.

Seine Jogginghose ist unten dreckig, und ich schaue auf Alexas Beine, sie bewegt sich so eigenartig und steif. So läuft das. So läuft das, ich erinnere mich an all die Mädchen mit den Kreuzchen im Kalender und der Pille danach in der Geldbörse, so läuft das, wenn man nicht ist wie die. Dort ist die Bushaltestelle. Wir haben sicher noch etwas im Tiefkühlfach, wir kommen sicher klar, so kann sie doch nicht bis nach Hause gehen.

Jetzt blickt sie auf.
»Mama«, sagt sie. »Warum?«
»Warum was?«, sage ich.
Sie denkt immer, ich sei in ihrem Kopf.
Wir stellen uns an die Haltestelle. Ich schaue hinüber zur Ecke, da kommt kein Bus. Jetzt ist ihre nasse Hose bestimmt eiskalt.
»Warum nicht?«, fragt sie.